Wandern zwischen den Welten – von den USA nach Berlin

Viele Deutsche träumen davon, in den USA zu leben und zu arbeiten. Poppe ist den umgekehrten Weg gegangen und 2017 nach Berlin ausgewandert. Wir haben mit Poppe über das Ankommen im deutschen Alltag, die Arbeit als Frontend-Entwickler bei Neofonie und das Thema Gender gesprochen.

Du hast einen ziemlich ungewöhnlichen Namen: Poppe. Ist das eine Art Künstlername?

Poppe ist eigentlich mein Familienname, aber seit ich klein bin, werde ich von allen so genannt. Ich finde, der Name passt auch besser zu mir als mein richtiger Vorname. Mir gefällt, dass er genderneutral ist. Im letzten Jahr habe ich daher beschlossen, ihn auch offiziell zu meinem Vornamen zu machen. Ich heiße jetzt also Poppe Poppe.

Viele Deutsche träumen von einem Leben in den USA. Du bist den umgekehrten Weg gegangen. Was hat dich nach Deutschland gezogen?

Ein Grund war, dass ich Deutsch lernen wollte. In den USA hatte ich bereits Französisch und Japanisch gelernt, fand es aber immer schwierig, eine Sprache gut zu sprechen, ohne vor Ort im Land zu sein.

Deutsch gilt im Ausland ja eher als vertrackte, nicht besonders sexy Sprache. Warum also gerade Deutsch?

Meine Familie hat Vorfahren in Deutschland, viele meiner Verwandten stammen von hier. Einige Cousins und Cousinen wohnen immer noch in Deutschland, andere in Wien. Jetzt kann ich sie besuchen und sogar mit ihnen Deutsch sprechen.

Welche anderen Wünsche und Träume hast du mit dem Auswandern verbunden?

Meine Erfahrungen mit Europa waren bis dato sehr positiv. Ich habe die Menschen immer als weniger extrem empfunden als in den USA, als ruhiger und bemühter, ein ausgeglichenes Leben zu führen. Man genießt in Europa den Augenblick mehr, habe ich den Eindruck. In den USA gibt es einen viel größeren Konkurrenzkampf, es geht immer um Superlative, darum, wer der Beste und Wohlhabendste ist. Außerdem hatte ich den Wunsch, in einem queereren Umfeld zu leben. Ich habe mich nie als besonders maskulin empfunden und fühle mich jetzt in Berlin, in meinem großen Freundeskreis mit genderneutralen Identitäten, sehr wohl. Angezogen hat mich auch die große Szene für elektronische Musik. Ich produziere Musik und möchte auch selbst Partys veranstalten, als DJ unterwegs sein.

Hast du deinen Umzug akribisch vorbereitet, dein neues Leben im Vorhinein schon genau geplant?

Ich stand im engen Austausch mit einem Freund, der bereits nach Berlin ausgewandert war. Bei ihm wirkte der Umzug recht unkompliziert, und vor allem wusste ich von ihm, dass man nicht alles bereits im Vorfeld organisiert haben muss. Man kann alles Schritt für Schritt regeln. Ich bin also ausgewandert, ohne vorher eine Unterkunft oder einen Job zu haben.

Wie hast du deine Sachen über den großen Teich bekommen?

Ich hatte mich bereits in den USA von vielen Dingen getrennt und bin nur mit zwei Koffern nach Berlin geflogen. Meine beiden kostbaren Turntables mussten aber auch noch mit ins Handgepäck. Ich wusste, dass sie hier in Europa schwer zu bekommen sind.

In Berlin angekommen – wie ging es dann weiter für dich?

Die ersten zwei Wochen konnte ich bei einem Freund bleiben, und danach tat sich eine neue Wohngelegenheit für vier Monate auf – und so weiter. Ich hatte da eine richtige Glückssträhne.

Weißt du noch, was dir als erstes in Berlin aufgefallen ist?

Streetart und Graffiti, und, ehrlich gesagt: Der Dreck, der viele Müll. Irgendwie gefiel mir das aber auch, weil es zeigte, dass es hier nicht nur um Schönheit und Perfektion geht. Erstaunt hat mich, wie ausgedehnt Berlin ist, im Verhältnis zu dem, was ich kannte – und wie leicht trotzdem jedes Ziel mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, mit dem Rad oder sogar zu Fuß erreichbar ist. Ein Traum. Mir fiel auch die coole Architektur auf und die Art, wie Menschen sich hier ausdrücken und anziehen. Sie erscheinen mir ziemlich authentisch.

Ist es dir leicht gefallen, im deutschen Alltag anzukommen?

Ja. Ich habe aber auch bewusst versucht, mich mutig in neue Situationen zu werfen und darauf zu vertrauen, dass sich die Dinge schon ergeben werden. Geholfen hat mir die pulsierende Energie, die ich in Berlin von Anfang an wahrgenommen habe, und eine Art von Resilienz: Ich versuchte, nicht zu hart zu mir zu sein, wenn ich Fehler machte, meinen Blick eher auf den Lernprozess zu richten als auf das, was nicht funktionierte. Einfach weitermachen und überall dabei sein. Da ich sehr offen bin, habe ich schnell neue Bekanntschaften gemacht, manches davon blieb natürlich eher oberflächlich. Aber aktuell bin ich sehr glücklich mit den Freunden, die ich gefunden habe.

Was gefällt dir am meisten am Berliner Leben?

Ich liebe das viele Grün, die Parks und die frei zugänglichen Seen. Man hat immer die Möglichkeit einer kleinen Flucht in die Natur. Ich mag, dass es hier einfacher ist, sich politisch zu engagieren: In den USA fühlt sich Protest, zum Beispiel eine Demo, gefährlicher an. Mir gefällt auch, wie Menschen hier dem Anderssein begegnen. Einmal war ich nach einer Party frühmorgens mit der S-Bahn in einem völlig abgefahrenen Outfit unterwegs – und niemand nahm Notiz von mir. In vielen anderen Orten dieser Welt wären die Reaktionen sicher anders ausgefallen. Berlin ist für mich die Freiheit, so zu sein, wie ich es möchte! Auch die Kulturszene ist wunderbar aufregend. Kunstausstellungen, Live-Konzerte, Tanzparties mit DJ-Sets – jede Woche ist etwas im Plan. Und: Ich fühle mich hier sehr sicher. Das ist ein wichtiger Punkt.

Gibt es etwas, das du an deinem Leben in den USA vermisst?

Definitiv meine Familie und meine Freunde. Die höfliche Art der Amerikaner. Manchmal sogar das stundenlange Autofahren, obwohl mir mein autoloses Leben hier letztlich mehr Freiheit gibt. Und manchmal vermisse ich den etwas direkteren amerikanischen Witz. Der deutsche Humor kann doch sehr ernst sein.

Kommen wir zum Ernst des Lebens: Wie war dein Einstieg in die Berliner Arbeitswelt?

Erstmal total frustrierend. Trotz vieler Bewerbungen bekam ich einfach keine Zusage. Auf den letzten Drücker, kurz vor dem Auslaufen meines Visums, fand ich dann endlich eine Stelle. Ab da wurde es einfacher, sicher auch durch meine besseren Sprachkenntnisse. Und wenn man erst einmal in einem Arbeitsverhältnis angekommen ist, ist es hier definitiv besser als in den USA, viel weniger angstbesetzt. Das ist noch etwas, was ich an Deutschland mag: Man verliert seinen Job hier nicht so leicht. Diese Stabilität schätze ich sehr.

Wie bist du zur Neofonie gekommen?

In den USA habe ich ursprünglich Logik studiert. Im Anschluss daran habe ich mir selbst JavaScript beigebracht und gemerkt: Das ist mein Ding, das macht mir Spaß. In Bootcamps für Web-Entwickler konnte ich mir weitere Fähigkeiten aneignen, und so bin ich immer tiefer in die Welt des Web-Developments eingestiegen. In meinen ersten Berliner Jobs in diesem Bereich sah ich dann einige Startups sich gründen und genauso schnell wieder verschwinden. Ich wollte jedoch einen Arbeitsplatz mit mehr Sicherheit. Über einen Personalvermittler bin ich zur Neofonie gekommen.

Wie unterscheidet sich die Arbeit als Frontend-Entwickler in den USA von der in Berlin?

In der Softwarebranche in den USA sind ein bis zwei Jobwechsel pro Jahr keine Seltenheit. In Deutschland gibt es das weniger, was ich gut finde. Mein Eindruck ist auch, dass die Menschen in Deutschland teamorientierter sind. In den USA gibt es viel Konkurrenzdruck. Da, wo ich herkomme, arbeiten viele Frontend-Entwickler für die großen Tech-Konzerne, Amazon, Apple, Microsoft. Der deutsche Markt wird weniger von Riesen dominiert. Die Gehälter sind hier definitiv geringer, aber dafür hat man mehr Sicherheit im Job und einen ausgeglicheneren Lebensstil.

Wie empfindest du die Zusammenarbeit mit deinen deutschen Kolleginnen und Kollegen? Gibt es da Unterschiede zu deinen Erfahrungen in den USA?

Im Grunde ist es ähnlich wie zu Hause. Ich hatte mehr Unterschiede erwartet, was Gesprächsebenen, Umgang und auch Kleidungsstil betrifft.

Du bezeichnest dich als non-binären Menschen. Kannst du etwas genauer erklären, was du mit dieser Definition verbindest?

Ich verstehe Gender als konditioniert und performativ. Das Konstrukt ist zwar mit dem biologischen Geschlecht verbunden, aber definiert als eine soziale Interpretation davon. Biologisch gesehen ist das Geschlecht aber nicht strikt binär – und Gender noch weniger. Bei meiner Geburt wurde mir das männliche Geschlecht zugewiesen, aber ich habe mich nie damit identifiziert, genauso wenig wie mit dem weiblichen. Ich ermutige alle Menschen, sich nicht durch diese beiden Geschlechter und alles, was damit einhergeht, einschränken zu lassen – und diese Kategorien auch anderen nicht aufzuzwingen. Ich respektiere, dass sich viele Leute mit dem binären Geschlechterkonstrukt identifizieren, aber ich selbst möchte bei diesem Spiel nicht mitspielen.

Du lebst deine Einstellung zum Thema Gender sehr offen. Welche Erfahrungen machst du damit im Arbeitsalltag, auch im Unterschied zu den USA?

Aus meiner Sicht tut sich die Software-Branche mit diesem Thema etwas schwer. Überall, wo ich gearbeitet habe, gab es mehr Männer als Frauen und non-binäre Menschen. Das führte oft zu unbewussten geschlechtsspezifischen Vorurteilen. Ich fühle mich ein bisschen verantwortlich, diese abzubauen – in Bezug auf Genderrollen, Sprache und Identitäten. Viele Menschen fühlen sich etwas unwohl, wenn sie mit anderen Geschlechteridentitäten konfrontiert werden, blocken erstmal ab. Deshalb freue ich mich über jede Frage dazu und zeige gern neue Perspektiven auf. Ich muss aber auch akzeptieren, wenn sich Menschen neuen Ideen gegenüber nicht öffnen möchten. In den USA war diese Art von Dialog etwas einfacher.

Welche Unterstützung bietet dir Neofonie, um dich als non-binärer Mensch bei der Arbeit wohlzufühlen?

Bis jetzt kann ich sagen, dass man mir sehr freundlich, wohlwollend, hilfreich und auch neugierig begegnet, gerade von Seiten der HR-Abteilung. Meine eigene Abteilung ist aber auch sehr offen meinen Erfahrungen und vor allem neuen Ideen gegenüber, zum Beispiel in Bezug auf den Umgang mit Daten und deren Aufbereitung. Das ist mir sehr wichtig. Zuhören, Ehrlichkeit und Akzeptanz sind ganz wesentliche Werte, die eine Firma mir entgegenbringen kann, und Neofonie lebt diese Werte. Ich fühle mich hier gut aufgehoben und unterstützt.

Was würdest du Unternehmen oder Arbeitskollegen empfehlen, um ein noch inklusiveres und unterstützenderes Arbeitsumfeld für non-binäre Personen zu schaffen?

Ich denke, es wäre gut, wenn man die Menschen öfters mit neuen Ideen konfrontieren würde, sei es Diversity, Inklusion oder anderen sozialen Konzepten. Vielleicht könnten diese Themen bei informellen After-Work-Treffen diskutiert werden. Bei Neofonie gibt es doch das Format “Pizza und Bier”, das wäre ein schöner Rahmen. So können sich die Kolleginnen und Kollegen Gedanken darüber machen und austauschen. Gleichzeitig entlastet es Menschen wie mich, die dann nicht immer eine Vorreiterrolle einnehmen müssen. Und noch ein Punkt wäre mir wichtig: Ich würde mir wünschen, dass alle Kolleginnen und Kollegen ihr Pronomen angeben. Ich weiß aber, dass das schwierig ist, vor allem angesichts einer geschlechtsspezifischen Sprache.

Hat sich deine Perspektive auf dein Heimatland verändert, seit du nach Berlin ausgewandert bist?

Ironischerweise denke ich viel öfter an Amerika, seitdem ich ausgewandert bin, und definiere mich jetzt in kultureller Hinsicht auch stärker als Amerikaner:in. Ein komplizierter Prozess – zuerst einen Ort zu verlassen, um sich dann mehr als je zuvor mit diesem Ort zu identifizieren… Abgesehen davon versuche ich aber, die amerikanischen Nachrichten nicht allzu sehr zu verfolgen. Ich finde es sehr verstörend, was da über die Jahre so alles geschehen ist.

Wie sehen deine langfristigen Pläne und Ziele aus?

Erstmal freue ich mich darauf, meinen Weg, den ich hier eingeschlagen habe, weiterzugehen. Das betrifft auch den kreativen Teil, meine Musik. Außerdem würde ich gern die deutsche Staatsbürgerschaft erwerben, um mein Leben hier etwas einfacher zu gestalten. Aber wer weiß, vielleicht gehe ich eines Tages auch zurück in die USA? Meine Familie wird ja nicht jünger. Zumindest wünsche ich mir aber, Berlin als eine meiner Heimatstädte immer in meinem Leben zu behalten.

Eine gemeine Frage zum Schluss, aber sie schließt den Bogen zum Anfang: Wie sieht es mit deinen Sprachkenntnissen aus? Hast du dein Ziel schon erreicht?

Als ich hier ankam, konnte ich durch Duolingo bereits ein wenig Deutsch, aber wirklich nicht viel. In Berlin habe ich mich dann aktiv in die Sprache gestürzt und natürlich jede Menge Fehler gemacht. Heute ist Deutsch für mich meine zweite Sprache nach Englisch, ich kann sie sogar besser als Französisch und Japanisch. Allerdings sprechen in Berlin einfach zu viele Menschen Englisch, deshalb ist mein Sprachniveau leider immer noch nicht allzu hoch.

 

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Das Interview führte Susen Rumposch.
Foto: Susen Rumposch
Veröffentlichung am 31.07.2023